20:30 Uhr. Es ist wieder einer dieser Tage, an denen ich früh das Haus verlassen habe, um die lange Anfahrt zum Kunden bereits im Morgengrauen zu bewältigen. Während dieser noch schläft, habe ich bereits 150 Kilometer hinter mich gebracht.
Aber ich beschwere mich nicht. Ich liebe es, in den Tag hinein zu fahren, die Gedanken schweifen zu lassen und den Sonnenaufgang zu betrachten. Im besten Fall erwische ich gerade dann einen Stau, wenn der Himmel am schönsten ist. Dann greife ich neben mich auf den Beifahrersitz, nehme meine Kamera und mache ein paar Fotos. Das hat mir schon so manchen frühen Start erhellt.
Heute nicht. Heute ist es wieder grau, so wie die letzten acht Wochen. Es ist eigentlich immer nur noch grau. Alles ist grau. Meine Innenausstattung ist grau, die Sitze sind grau , mein Anzug ist grau, meine Pumps sind...schwarz - selbst meine Haare zeigten schon einen Anflug von Grau, bis ich gestern es dank chemischer Innovationen der Kosmetikbranche eliminiert habe. Ich frage mich dabei immer, was schädlicher ist. Die Farbe auf der Kopfhaut oder die Ammoniakwolke, in der man sich während des Färbevorgangs bewegt. Aber die intensiven Dämpfe des Ammoniaks blockieren derartig tiefgründige Gedanken schnell. Man denkt einfach nicht mehr.
Nun ist es schon wieder dunkel. Ganz dunkel. Ich habe noch 40 Kilometer bis zu meinem Hotel und kann es nicht erwarten, diesen Tag entspannt zu beenden. Ich habe wieder ein Hotel mit Sauna gebucht, welche in einer guten Stunde schließen wird. Dies bedeutet, dass ich wieder vor der schwierigen Entscheidung stehen werde, ob ich noch etwas essen oder lieber hungrig in die Sauna gehe. Früher habe ich mich über so etwas noch geärgert, heute nehme ich es so, wie es kommt. Ich freue mich einfach auf ein sauberes Zimmer, ein hoffentlich großes Bad und ein sehr gemütliches Bett. Wenn die Bar schön ist, denke ich, werde ich vor dem Schlafengehen vielleicht noch ein Bier trinken gehen. Aber eigentlich steht mir nur noch der Sinn nach Ruhe, Entspannung und Wohlfühlen.
Nachdem ich meinen Navi gefolgt bin und die nächste Abfahrt rechts genommen habe, erscheint vor mir ein großer grauer Betonklotz. Die leuchtend blaue Neonschrift auf dem Dach erleichtert mir zwar das Finden meines Nachtquartiers, macht den Klotz jedoch nicht unbedingt einladender. Gemütlich sieht anders aus, denke ich, während ich den Knopf der Parkschranke drücke. Eine freundliche Stimme ertönt und gewährt mir Einlass. Ich stelle das Auto ab, lasse meinen Kopf nach hinten gegen die Kopfstütze fallen, schließe für ein paar Sekunden die Augen und genieße den Moment des Ankommens.
Mit Sack und Pack betrete ich kurz darauf die Hotellobby, deren Neonbeleuchtung keinen Winkel im Verborgenen lässt. Geblendet kneife ich kurz die Augen zusammen. Es ist hell hier, zu hell für meinen Geschmack und einen müden Geist. Langsamen Schrittes und doch zielstrebig gehe ich auf die Rezeption zu. Eine freundliche junge Dame mit osteuropäischem Akzent begrüßt mich. " Wielkommen ien unsere Hotel. Wie ist ihr Name?“
Nach dreimaliger Wiederholung meinerseits und einer kurzen Suchphase hat mich auch der Computer gefunden. Und nun, als würden wir noch einmal ganz von vorne anfangen und hätten uns bis jetzt noch nicht gesehen, sieht sie zu mir auf und sagt “ Hallo Frau Kudelko. Schön, dass sie zu uns gefunden haben.“ Ja, das finde ich auch schön, denke ich mit einem Seufzen, das mir jetzt leise entfleucht. Eigentlich möchte ich jetzt wirklich nur meinen Schlüssel in Empfang nehmen, freue mich aber dennoch über den bemüht freundlichen zweifachen Empfang, bis mir die Frage nach meiner Kreditkarte und der Bitte um das Ausfüllen des Anmeldezettels klarmacht, dass auch hier, außer der Hergabe meiner gesamten Daten, nichts persönlich ist. Ich kann es schwer beschreiben, aber mein Wohlfühlfaktor sinkt schlagartig in die Tiefe. Nach der sachlichen Erläuterung von Frühstückszeiten und dem Fingerzeig auf den Aufzug mache ich mich endlich auf dem Weg nach oben.
Schon in der Aufzugskabine beschleicht mich das Gefühl, dass ich gerade meine Persönlichkeit am Check In abgegeben habe. Ich bin jetzt nur noch ein winziges Teilchen in diesem riesigen Komplex, welches müde und bepackt in seine Schlafzelle für 98 Euro kriecht.
Der Aufzug öffnet sich. Vor mir erstreckt sich ein endlos langer Gang mit vielen Türen. Ich muss hier meine Schlafzelle finden und hoffe, dass die Karte an der Tür auf Anhieb funktioniert.
Wie jedes Mal bei Ankunft plagt mich meine Blase und das nicht erst seit einer halben Stunde.
Im Zimmer angekommen, schmeiße ich alles von mir, außer den Mantel, denn dafür ist keine Zeit mehr, und inspiziere sitzend das Bad. An einem dieser Abende habe ich mir aus lauter Eile den Reißverschluss meiner Jeans zerrissen, erinnere ich mich. Jedes Mal dreht es sich um Sekunden. Heute habe ich es ohne Zerstörung meiner Garderobe geschafft. Ein kurzer Blick in den Spiegel verrät mir, wie müde ich tatsächlich bin und ich betrete mein Zimmer.
Dies ist immer der Moment, indem ich das erste Mal diesen sterilen, hygienischen und unpersönlichen Geruch von Hotelzimmern wahrnehme. Wenn ich eine ganz bestimmte Geruchsnote abziehe, riecht es nach Krankenkaus. Ich weiß nicht, was dem Geruch genau fehlt. Chlor oder Desinfektionsmittel. Irgendetwas in der Art, aber steril ist es auf jeden Fall.
An der Wand hängt eines dieser Bilder, dessen Aussagekraft in etwa der einer Alditüte gleicht. Dennoch sehe ich sie mir immer an. Sie sind alle unterschiedlich und doch gleich. Wie Fahrstuhlmusik. Ich könnte zehnmal vom Keller zur Dachterrasse fahren und hinterher dennoch nicht sagen, welche Musik ich dabei gehört habe.
Ich nehme das Stückchen Schokolade von meinem Kopfkissen, lege es zu den anderen als Blutzuckernotration in meine Handtasche und lasse mich auf das Bett fallen. Mit etwas Schwung, um zu sehen, ob ich morgen mit Rückenschmerzen aufwachen werde oder nicht. Es fühlt sich gut an. Aber in meinem Zustand würde sich wohl gerade jedes Bett gut anfühlen. Ich ziehe rechts und links das Kopfkissen an meine Ohren und sehe an die Decke, dann hinüber zum Fenster, wo ich draußen die roten Lichter eines Schornsteins in der Dunkelheit erblicke. Ich denke nicht, dass ein genauerer Blick aus dem Fenster mir ein erfreuliches Panorama bieten würde und bleibe liegen.
Nebenan summt noch die Lüftungsanlage im Badezimmer. Erfahrungsgemäß wird sie dies noch circa zehn Minuten tun. Ein Geräusch, was ich in meinem Bett liegend nur sehr ungern akzeptiere, weil es mir die Enge meiner Zelle immer so nahebringt.
Die Sauna schließt in 20 Minuten, ich habe Hunger, bin aber zu müde zum Essen. Unten in der Bar sitzen noch viele Leute, das habe ich bei meiner Ankunft gesehen. Ein Gedanke, der mich in meinem Ruhebedürfnis zu der Entscheidung bringt, den Rest des verbleibenden kurzen Abends in meinem Zimmer zu bleiben und in Kürze die Augen zu schließen. Sie brennen und tränen bereits. Ich schließe sie jetzt schon einmal für einen winzigen Moment. Und dann ist da wieder dieses Gefühl.
Ich fühle mich allein, kalt irgendwie, kann nicht entspannen und fühle mich nicht wohl in diesem Bett, das so neutral und unfreundlich riecht. Das ist nicht das Gefühl von Feierabend, nicht das Gefühl von Ankommen und Entspannung. Ich werde hier nur aufbewahrt, so fühlt es sich an. Alles um mich herum ist sauber, aufgeräumt, gerade und genau so eingerichtet, dass es keinen Grund zur Beschwerde geben kann. Aber wohlfühlen kann ich mich hier nicht.
Rechts neben mir im Nachbarzimmer läuft der Fernseher eines vermeintlich Schwerhörigen. Links neben mir versucht gerade jemand, seinen unaufhörlichen Hustenanfall lebend zu bewältigen. Ich wünsche ihm, dass er es schafft. Es klingt auf jeden Fall so, als hätte ich auf beiden Seiten Einzelpersonen als Nachbarn, was mich ein wenig beschwichtigt und ich atme kurz erleichtert auf bei dem Gedanken, dass mir heute eine lustvolle Gehörorgie mit großer Wahrscheinlichkeit erspart bleiben wird.
Auch, wenn es meist menschlich und vollkommen normal ist, hält es mich jedes Mal vom Einschlafen ab, weil ich bis zum Ende zuhören muss. Es ist wie bei einem Krimi. Den kann man auch nicht kurz vor Schluss ausschalten und schlafen gehen. Also, ich kann das nicht. Besonders schlimm ist es, wenn das Ende für den geneigten Zuhörer nicht erkennbar ist. Wenn plötzlich Ruhe ist. Einfach so. Dann liege ich in dieser Totenstille und warte auf das Finale. Dann gehen meine Augen auf und sehen im Dunkeln umher, als ob ich dann besser hören könnte. Während diverse Horrorszenarien minutenlang meinen Geist durchwandern, schlafe ich dann meist irgendwann ein. Heute ist das anders. Es wird nicht passieren.
In der Befürchtung, dass mir aus Versehen vor Müdigkeit die Augen bis um nächsten Morgen zufallen könnten, stelle ich schon einmal meinen Wecker. Danach ziehe ich den Stecker des Radioweckers aus der Dose, um das Leuchten der roten Digitalzahlen zum Erlöschen zu bringen. Früher war dies der einzige Grund. Heute benötige ich die Steckdose, um mein Handy über Nacht zu laden. Die Steckdosen sind bis heute nicht mehr geworden, geht mir durch den Kopf. Irgendwas hinkt den Innovationen ja immer hinterher. Hier sind es die simpelsten Dinge, wie eine zusätzliche Steckdose im Holzfurnier.
Hier bin ich nun, in meinem ersehnten Bett, in meiner ersehnte Ruhe, in einem aufgeräumten Zimmer und sehne mich einfach nur nach meinem Zuhause.
Nicht, dass dort jemand auf mich warten würde, außer dem unbezahlbaren Gefühl, zuhause zu sein. Ich zu sein, Mensch zu sein.
Ja, das ist es wohl. Ich sehne mich einfach nur nach mir.
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