An
diesem Wochenende bin ich dienstlich dazu verurteilt worden, meine
wenige Freizeit in der Schweiz mit Geschäftspartnern zu verbringen.
In dem Wissen, dass dieses Wochenende kein privates werden würde, nahm ich mir vor, bis dahin etwas Zeit für mich einzuplanen. Ich wollte mir noch etwas Gutes tun.
An meinem letzten Wochenende, zwischen bügeln, putzen und waschen, fiel mein Blick irgendwann auf die Uhr und ich hetzte zum Friseur.
Wellness fühlt sich anders an und sollte nicht mit Hektik beginnen. Der Zeitmangel hatte zur Folge, dass die wenige Verwöhnzeit, welche ich mir gönnen wollte, gänzlich flachfiel. Eine Dreiviertelstunde später trat ich also mit einem neuen Haarschnitt, ohne Kur und Kopfmassage und vollkommen unbefriedigt hinaus in den dunklen Februarabend. Es nieselte und so zog ich meine Kapuze auf und lief zum Auto. Ich ging also genauso, wie ich gekommen war - im Dauerlauf mit unordentlicher Frisur. Ein lediglich zweckdienlicher Besuch, bei dem ich nur Haare und Geld gelassen hatte.
Wegen der Reisevorbereitungen, die aus Zeitgründen hauptsächlich am Wochenende stattfinden mussten, fiel auch die Sauna am Folgetag aus. Krampfhaft versuchte ich, noch ein freies Zeitfenster für mich zu finden, bevor ich in das kommende verplante Wochenende starten würde, scheiterte aber mit meinem Vorhaben. Für mich blieb nichts übrig, denn Wellness braucht Zeit und innere Ruhe. Zeit, die nicht gestohlen oder an allen Ecken begrenzt ist.
So machte ich mich also vier Tage später auf den Weg. Ich fuhr widerwillig und unentspannt, aber plangetreu zum Flughafen, checkte ein und stellte mich brav in der Schlange zur Sicherheitskontrolle an. Routinemäßig überprüfte ich meine Hosentaschen und zog schon während des Wartens meine Schuhe und meinen Gürtel aus. Die drei Passagiere vor mir hatten dies nicht getan und wurden nacheinander darum gebeten, diese Dinge abzulegen. Mir fehlte einfach die Geduld für diese Warterei und ich war in Gedanken schon dabei, einfach umzudrehen und nach Hause zu fahren. Heute strengte mich einfach alles an.
Trotz guten Zuredens eines lieben Freundes konnte ich an dieser Reise einfach nichts Positives für mich entdecken. Bedingt durch unendlich viele vorangegangene dunkle und arbeitsreiche Wochen war ich wirklich dringend auf meine Erholung am Wochenende angewiesen und trauerte dem vermeintlich verlorenen bereits schon vor Antritt der Reise hinterher. Hier, in der scheinbar endlosen Warteschlange.
Eine gute halbe Stunde später bestieg ich erwartungskonform den Shuttlebus und dann das Flugzeug. Die Fensterplatzreservierung hatte wenigstens funktioniert, ein kleiner Lichtblick an diesem Tag. Ich schnallte mich an, schaltete mein Handy aus und ergab mich meinem Schicksal. Resigniert, gleichgültig und nach guterLaune suchend, die mir mein Spaßgesicht ermöglichen sollte, das ich bei Ankunft im besten Fall für die nächsten fünf Tage tragen sollte. Ich lauschte nur beiläufig dem Notfallplan der Stewardess und hatte nicht einmal Interesse an den Notausgängen. Ich würde sie schon finden, wenn ich sie bräuchte.
Die Turbinen starten. Der Kapitän hat eine sympathische Stimme. Irgendwie mag ich es, wenn sich der Pilot vor Flugbeginn zu Wort meldet. Es ist ein beruhigendes Gefühl,die Stimme des Mannes zu kennen, dem ich mein Schicksal für die nächsten Stunden in die Hände lege.
Wir rollen los. Langsam. Lange. Sehr lange. Es ähnelt einer Sightseeingtour des Fuhlsbüttler Rollfeldes. „Fahren wir in die Schweiz oder fliegen wir auch noch ein Stück!?“, schreit etwas laut in mir. Scheinbar gehen aber nicht nur mir gerade die Pferde durch. Hinter mir heult unentwegt ein Kleinkind einer dreifachen Mutter, dem beim Abflug einfällt, dass es schon jetzt seine Tante derart schlimm vermisst, dass es keine Minute lebend ohne sie überstehen wird. Zumindest entnehme ich dies den gequiekten Lauten, die sich durch das Schniefen der tropfenden Nase ihren Weg bahnen. Das Kind sitzt neben einemJungen, der wie sich später herausstellt, ihr wenig älterer Bruder ist. Sonst ist niemand zu sehen. Ich lasse ungläubig den Kopf auf meine Brust sinken und denke all diese Sachen, die einem an so einem Tag in den Kopf kommen. Hört das denn nie auf? Warum muss sie direkt hinter mir sitzen? Warum heute? Warum ich? Hat das Kind denn keine Mutter?
Und genau in dem Moment, als ich den letzten Satz zu Ende gedacht habe, vernehme ich die Stimme der Mutter, die derzeit einen weiteren ihrer Zöglinge an der Brust kleben hat und somit bewegungsunfähig ist. Ihr fällt gerade für alle Passagiere vernehmbar ein, dass der Beruhigungsteddy des schniefenden Etwas, welches mir mittlerweile rhythmisch in den Rücken tritt, mit dem Gepäck aufgegeben wurde und somit nicht erreichbar ist. Dies soll wohl gleichzeitig eine Entschuldigung an alle sein,die das Geheul wohl oder übel ertragen müssen.
Sie tut mir leid. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken und bewundere gleichzeitig die Souveränität, mit der sie alles und alle Kinder allein meistert. Früher hatte ich auch diese Nerven, denke ich. Wo sind sie hin? Ich muss sie auf meinem Weg verloren haben. Irgendwo zwischen Muttersein und Karriereleiter. Schade, ich würde sie gern wiederfinden. Doch ich komme zu dem Schluss, dass dieses Nervenkostüm wohl nur eine Mitgift für junge Mütter ist. Sie brauchen es auch am meisten.
Ich erinnere mich dunkel. Ich habe damals viel mehr ertragen können, auch viel mehr Fremdbestimmung annehmen können. Ich hatte jahrelang kein Wochenende zur Erholung. Und heute? Heute will ich nicht einmal mehr eines hergeben.
Diesem Gedanken folge ich eine Weile. Fremdbestimmung kann man nicht pauschalisieren, denke ich. Sie kann sich ganz unterschiedlich anfühlen und wir haben für jede Art auch ganz unterschiedliche Toleranz- und Kraftpotentiale zur Verfügung. Meine sind derzeit gerade ziemlich am Ende und ich verspreche mir, darüber nachzudenken, sobald ich einmal zur Ruhe komme. Jetzt hebe ich erst einmal ab. Es gibt tatsächlich noch ein Stück Wegstrecke, die wir fliegend hinter uns bringen. Beim Abheben kehrt nunu endlich auch hinter mir Ruhe ein.
Ich bin umgeben von Blau und Weiß, die Sonne blendet meine Augen und bringt nach all der Dunkelheit ein fast vergessenes Gefühl zu mir zurück. Unwillkürlich lächle ich, empfinde Zufriedenheit, Glück und eine Spur von Frohsinn. Auf der Wolkendecke, die aussieht wie frisch gefallener Schnee, folgt mir ein Regenbogen. Nein, kein Bogen, eher ein kreisförmiges Gebilde, welches in allen Spektralfarben erstrahlt.
Es könnte eine Reflexion der mir nahen, glänzenden Turbine sein, versuche ich eine Erklärung zu finden, höre aber schnell wieder damit auf. Meine Augen bleiben daran haften und ich erfreue mich der Glückshormone, die dadurch freigesetzt, meinen Körper durchfluten.
Fasziniert bestaune ich Bergwipfel, die die Wolkendecke durchstoßen und mir bedeuten, dass unter mir die bekannte Welt noch existiert. Licht durchdringt mich bis in den letzten Winkel. Unter mir und der Wolkendecke erscheint langsam die Stadt. Geometrisch korrekt schiebt sich Zürich ins Blickfeld. Irgendwie langweilig, denke ich, aber auch beruhigend. Ordentlich. Dann mischen sich kindliche Gedanken hinein wie in einer bekannten Automobilwerbung. Ein See, ein gelbes Haus, ein Pool, ein sechseckiges Feld, ein Stadion, ein rotes Auto… Alles erscheint leicht und aus dem großen Ganzen werden viele kleine Teile. Jedes eine Aufmerksamkeit, einen Augenblick wert.
So will ichwahrnehmen, so will ich leben. Jede Minute. Auch in Zeiten der Fremdbestimmung steht es uns frei, die Augen offen zu halten. Jeder Moment bietet uns die Möglichkeit zu sehen und unsere Seele zu bereichern mit all den Wundern um uns herum, wenn wir nur wachbleiben.